Emotionen sind keine Störung der Vernunft, sondern ein essenzieller Teil unseres Menschseins. Sie sind biologisch tief verankert, entstehen blitzschnell und beeinflussen unsere Wahrnehmung, Entscheidungen, Kommunikation und unser Verhalten. Neurowissenschaftlich betrachtet sind sie körperliche und psychische Reaktionen auf bedeutungsvolle Reize – ausgelöst durch eine komplexe Zusammenarbeit zwischen Amygdala, Hypothalamus, präfrontalem Cortex und vegetativem Nervensystem.
Funktion von Emotionen:
- Schnelle Bewertung: Emotionen geben uns in Millisekunden Rückmeldung darüber, ob etwas gut oder bedrohlich für uns ist.
- Handlungsimpulse: Angst bringt uns in Alarmbereitschaft, Ärger mobilisiert Energie, Freude stärkt Bindung.
- Soziale Signale: Emotionen sind Kommunikationsmittel – auch nonverbal. Wir senden und empfangen ständig emotionale Informationen.
Kurz: Emotionen sind evolutionär überlebenswichtig. Aber in unserer heutigen, komplexen Welt können sie auch zur Belastung werden – wenn wir sie nicht verstehen oder lernen, mit ihnen umzugehen.
Wie Emotionen entstehen – ein Blick in die Tiefe
Emotionen entstehen in drei miteinander verwobenen Ebenen:
- Neurobiologische Ebene
Hier startet alles: Ein Reiz (z. B. ein kritischer Kommentar) aktiviert die Amygdala – unser „emotionales Frühwarnsystem“. Sie bewertet blitzschnell, ob Gefahr besteht. Wird der Reiz als bedrohlich interpretiert, wird eine Stressreaktion ausgelöst – lange bevor der rationale Verstand eingreifen kann.
- Psychologische Ebene
Unsere Interpretation des Reizes prägt das emotionale Erleben maßgeblich. Die gleiche Situation (z. B. ein Feedbackgespräch) kann als motivierend oder demütigend empfunden werden – je nach innerem Skript, Erfahrung und mentalem Zustand.
- Soziale & kulturelle Ebene
Wie wir Emotionen zeigen (dürfen), ist stark durch unser Umfeld geprägt. In manchen Organisationen oder Teams sind z. B. Ärger oder Unsicherheit „nicht erwünscht“ – was zu emotionaler Unterdrückung und langfristiger Belastung führen kann.
Der Einfluss von Emotionen – subtil, aber mächtig
Emotionen wirken immer. Ob bewusst oder unbewusst – sie beeinflussen:
- Wahrnehmung: In einem ängstlichen Zustand sehen wir mehr Risiken als Chancen.
- Entscheidungen: Studien zeigen: Selbst rationale Entscheidungen haben immer emotionale Anteile (vgl. Antonio Damasio).
- Kommunikation: Unsere Stimmung färbt Sprache, Körpersprache und Tonfall.
- Leistungsfähigkeit: Chronischer Stress oder emotionale Erschöpfung mindern Konzentration, Kreativität und Motivation.
Besonders in Führungsrollen ist emotionale Selbstregulation daher keine „weiche Fähigkeit“, sondern eine Schlüsselkompetenz – für Klarheit, Beziehungsgestaltung und Präsenz.
Emotionale Kompetenz entwickeln – ein Weg zu innerer Souveränität
Emotionen zu unterdrücken ist keine Lösung. Ebenso wenig wie sie unkontrolliert auszuleben. Der Schlüssel liegt im bewussten Umgang – einer emotionalen Selbstführung.
Emotionen wahrnehmen – ohne sofort zu handeln
Was fühle ich gerade? Wo im Körper spüre ich das? Das bewusste Wahrnehmen ist der erste Schritt, um aus dem Autopilot-Modus auszusteigen. Emotionale Intelligenz beginnt mit Selbstbeobachtung – ohne Bewertung.
Benennen statt bewerten
“Das macht mich wütend”, nicht “Ich bin wütend.” Studien zeigen: Das präzise Benennen von Emotionen (Emotionsdifferenzierung) aktiviert den präfrontalen Cortex – und hilft, wieder handlungsfähig zu werden. Einfache Tools wie das “Emotion Wheel” können dabei unterstützen.
Hinter die Emotion schauen
Fragen wie:
- Was will mir diese Emotion sagen?
- Welche Bedürfnisse oder Werte sind gerade berührt?
- Wovor will sie mich schützen?
… ermöglichen einen Zugang zu tieferen Schichten. Denn oft steckt unter Ärger Ohnmacht, unter Wut Trauer, unter Angst ein Schutzbedürfnis.
Regulieren statt kontrollieren
Emotionale Regulation bedeutet nicht, Emotionen zu unterdrücken – sondern konstruktiv zu beeinflussen. Das kann bedeuten:
- bewusst zu atmen (z. B. durch „physiologisches Seufzen“ – siehe Andrew Huberman)
- kurz innezuhalten
- das Setting zu wechseln (ein Gespräch verschieben, einen Spaziergang machen)
- oder gezielt die Perspektive zu wechseln (Reframing)
Emotionale Kommunikation kultivieren
In Teams, in Führung, in Beziehungen: Wer gelernt hat, über Emotionen zu sprechen – achtsam, klar, ohne Drama – schafft Verbindung, Vertrauen und Tiefe.
Beispiel:
„Ich merke, dass mich das gerade ärgert – weil mir Wertschätzung wichtig ist.“
Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von emotionaler Reife.
Emotionen in der Arbeitswelt: Zwischen Leistungsdruck und Menschlichkeit
In vielen Organisationen dominiert noch das alte Narrativ: „Emotionen haben im Job nichts zu suchen.“ Dabei zeigen Studien längst das Gegenteil:
- Psychologische Sicherheit steigert die Innovationskraft.
- Emotionale Klarheit reduziert Konflikte.
- Empathische Führung bindet Mitarbeitende langfristig.
Führungskräfte, die nicht nur Prozesse steuern, sondern auch Emotionen lesen und Räume für emotionale Intelligenz öffnen, sind heute gefragter denn je.
Emotionen als Wegweiser statt Gegner
Emotionen sind kein Problem. Unser Umgang mit ihnen entscheidet, ob sie uns lähmen – oder leiten.
Wer sie versteht, ihnen zuhört, sich nicht mitreißen lässt, sondern mit ihnen arbeitet, gewinnt nicht nur persönliche Klarheit – sondern wird zum Resonanzkörper für andere. Das gilt in der Selbstführung ebenso wie in der Führung von Teams.
Oder mit den Worten der Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett:
„Emotions are not built-in. They are built.“